„Kommt raus, die tun euch nichts“

5. April 1945: US-Truppen befreien Weichersbach

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US-„Luftpost“, gefunden 1943

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Rückseite Weichersbacher Flugblatt

Das Ende des „Tausendjährigen Reiches“, wie es die NS-Propaganda nannte, wurde den Weichersbachern schon 1943, 10 Jahre nach Machtergreifung Hitlers, angekündigt. Ein Aufklärungsflugzeug der Amerikaner warf direkt über dem Dorf Flugblätter ab mit der Botschaft: „Deutschland hat den Krieg verloren. Wir wissen es. Hitler weiß es.“

Der damals 17-jährige Weichersbacher Karl Belz (Vater des Autors) und im Reichsarbeitsdienst (RAD) tätig, fand das Flugblatt hinter einer Scheune und versteckte es in der Wohnung seiner Eltern. Ein lebensgefährliches Unterfangen, da darauf bereits die Todesstrafe stand. Solche „Propaganda“ der Alliierten wurde vom sog. „Jungvolk“ schnell eingesammelt und dem NS-Ortsgruppenleiter zwecks Vernichtung übergeben. Im Flugblatt bekundet u.a. Stalin: „Es wäre töricht, die Hitler-Clique mit dem deutschen Volk und dem deutschen Staat zu identifizieren; die Geschichte zeigt, dass Hitlers kommen und gehen, der deutsche Staat aber und das deutsche Volk bleiben.“

Im März 1945 wurden im oberen Kinzigtal verstärkt Angriffe der US-Luftwaffe registriert, die die Befreiung des Bergwinkels und des heutigen Sinntal einleiteten. Am 23. März fielen die ersten Bomben auf Schlüchtern in Nähe des Bahnhofs. Zwei Tage später wurde die damalige Kreisstadt und auch Sterbfritz bombardiert. Es gab Tote und Verletzte. Nach Aussage des Weichersbachers Georg Hölzer (81), damals 12 Jahre alt, beobachtete er am 4. April ein US-Aufklärungsflugzeug über Mottgers. Ihm folgten vier alliierte Jagdbomber, die über den Stoppelsberg kommend, die Landstraße zwischen Oberzell und Mottgers mit Bord-MGs beschossen. Zahlreiche Fahrzeuge gerieten in Brand. An diesem Tag waren noch zahlreiche deutsche Soldaten in Weichersbach, die wie durch ein Wunder überlebten.

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Einschussloch der Amerikaner (unten rechts)

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Wetterhahn Kirche Weichersbach

Bereits Anfang April hatten sich die US-Truppen mit Panzerverbänden, Artillerie und Infanterie dem damaligen Altkreis Schlüchtern über zwei Vormarschrichtungen genähert. Zum einem über Steinau – Marjoß – Jossa – Alterngronau – Mottgers – Weichersbach – Uttrichshausen in Richtung Rhön. Ein zweiter Vormarsch erfolgte über Hanau – Schlüchtern – Herolz – Elm – Gundhelm – Hutten, ebenfalls in Richtung Rhön. Zu diesem Zeitraum, es waren die Osterfeiertagen 1945, sind deutsche Soldaten in Weichersbach noch auf Quartiersuche. Im ganzen Dorf waren deutsche Militärfahrzeuge präsent und im Oberdorf bei Märtjes (Schiefer) soll es noch eine Telegraphen-Station gegeben haben.

Für den 4. April kündigte sich die Ankunft der Amerikaner in Jossa an. Deutsche Pioniere sprengten noch die Jossa-Brücke im Dorf und das strategisch wichtige vierbogige Eisenbahnviadukt der Strecke Fulda – Gemünden. Die US-Kampfverbände umfuhren zügig die Sperren in Richtung Altengronau. Dort wurde ein schweres deutsches Eisenbahngeschütz rechtzeitig in den Ziegenberg-Tunnel geschoben und so Kampfhandlungen vermieden.
Ohne Feindberührung fuhren die mit Hitler-Bildern, Schwartemägen und Schinken dekorierten US-Panzer in Richtung Mottgers.

Zwei Tage vor Eintreffen der Amerikaner in Mottgers hatte der Reichsarbeitsdienst (RAD) sein Lager bei dem Blaufarbenwerk (heute Betriebsgelände der Fa. Tabbert Wohnwagen) geräumt und auch ein deutsches Notlazareth in der Dreschhalle aufgelöst.

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Hildegard Münch und Mustafa Zülküflü im Weichersbacher „Bunker“ der heutigen Gaststätte „Zum Stern“

Als sich die US-Panzer am Vormittag des 5. April 1945 der Sinnbrücke in Mottgers näherten, wurden sie von einem deutschen Panzer, der auf der Straßenkreuzung stand, beschossen. Rund ein Dutzend deutsche Soldaten, die sich im Blaufarbenwerk verschanzt hatten, eröffneten ebenfalls das Feuer. Die US-Einheiten erwiderten das Feuer und vier Scheunen und das Blaufarbenwerk standen in Flammen. Nach einem halbstündigen Scharmützel gaben die Deutschen auf, sprengten die Sinnbrücke und flohen in Richtung Weichersbach. Von Mottgers aus wurden dann Burg und Dorf Schwarzenfels mit Panzern und Artillerie beschossen, bis sich die wenigen deutschen Verteidiger auch dort verzogen hatten. Ein Spähtrupp, aus Mottgers kommend, erkundete noch am gleichen Tag Sterbfritz und schoss wahllos in das Dorf, um möglichen deutschen Widerstand zu testen. Am 6. April wurde Sterbfritz dann von US-Panzern nach Beschuss des Kirchturms und einer Scheune befreit. Bei anschließenden Hausdurchsuchungen wurde versehentlich ein 14-jähriger Junge in einem Keller erschossen, fast gleichzeitig kam in dem Keller sein Bruder zu Welt.

Die US-Truppen stießen nun um die Mittagszeit des 5. April 1945 in drei Gruppen weiter in Richtung Weichersbach vor. Kurz vor Einmarsch der Amerikaner hatten Weicherbacher „Parteigenossen“ ihre Abzeichen unter die Bach-Brücke zur Schulecke geworfen. Eine Infanterieeinheit näherte sich nach Augenzeugenberichten dem Dorf über die Hopfenmühle und die Neumühle. Eine zweite Gruppe verschanzte sich unterhalb der Burgruine Schwarzenfels und sicherte den Vorstoß, da man mit Widerstand vom gegenüberliegenden Stoppelsberg rechnet, der jedoch ausblieb. Die dritte Gruppe, eine Panzereinheit, näherte sich auf der Landstraße Mottgers – Weichersbach dem Dorf. Da die Amerikaner erfahrungsgemäß vom höchsten Gebäude eines Dorfes – in der Regel der Kirchturm – beschossen wurden – feuerten sie sicherheitshalber auf den vermeidlichen Feindposten.

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Spuren eines Granatensplitters am Bettrahmen

Im April 2011, kurz vor der 700-Jahrfeier, entdeckte man noch zwei Einschusslöcher in der Halterung des Kirchturm-Wetterhahns. Neben den Treffern auf die Weichersbacher Kirche wurden von den anrückenden US-Panzern u.a. auch die Scheune des Anwesens Glock in Brand geschossen. Auch auf dem Friedhof schlug eine Phosphor-Granate ein und ein Grab geriet in Brand. Direkt gegenüber der Kirche und der Glock Scheune im nahen Anwesen Zeber saß Johann Zeber mit Ehefrau und seinen beiden Töchtern Käthe und Gustel, sowie seinem Bruder und dessen Frau aus Essen. Gustel Richter, geb. Zeber (84) erinnert sich: „Es gab einen lauten Knall und unsere notdürftige Kellerfensterverbarrikadierung fiel in sich zusammen. Tageslicht drang in den Keller und wo die Scheune Glock stand, war nur noch eine riesige Staubwolke.“

Hildegard Münch (84) aus Weichersbach erlebte die Befreiung ihres Dorfes im Kellergewölbe der elterlichen Gastwirtschaft „Zum Schneider“ in der Dorfmitte. Frau Münch: „Wir saßen mit acht Familienmitgliedern in einem Keller mit nur 6qm Grundfläche und bangten um unser Leben. Plötzlich kam unser Nachbarsjunge, der Eulersch Hannes (Johannes Zell), in den Keller gerannt und verkündete: „Kommt raus, die tun euch nichts“.

Zu Kampfhandlungen kam es nicht, aber mehrere Gebäude wurden durch die Beschießungen aus der Ferne beschädigt. Bei Eichholze (damals Johann Georg Schneider, heute Mottgerser Straße 15) wurde ein Schrank getroffen und die Kleider darin beschädigt. Treffer erhielten auch Hofmechels (Belz), Linnebauersch (Hölzer) und die Burgweger (Röll, Fasanenstraße 15).

Nach dieser kurzen Beschießung des Dorfes mit Panzergranaten trafen die amerikanischen Einheiten gegen 14.00 Uhr am Ortsrand von Weichersbach ein. Der damalige Bürgermeister Johannes Böhm ging ihnen mit Johann Jahn, einem Evakuierten aus dem Saarland, entgegen. Am Ortseingang Höhe Friedhof stand man sich direkt gegenüber. Die beiden mussten mit Gewehren im Rücken vor den Panzern durchs Dorf laufen. Es hätte ihren Tod bedeuten können, wenn die Amerikaner einen der Wehrmachtssoldaten erwischt hätten, die sich immer noch im Dorf aufhielten. Auf der Hopfenmühle bei Konrad Müller versteckten sich sechs deutsche Soldaten oben in der Scheune. Das „Hobbe-Kürtje“, wie er genannt wurde, versuchte sie mit Lebensmitteln zu versorgen, während die Amerikaner schon im Dorf waren. Auch im Oberdorf wurde noch ein bewaffneter deutscher Soldat gesehen.

Dann zogen die Amerikaner weiter nach Oberzell und vereinten sich mit einer Einheit, die aus Richtung Schwarzenfels über den Hirschberg nach Oberzell vorgerückt war. Zurück blieben an der Straße nach Oberzell und auch nach Mottgers zahlreiche ausgebrannte Autos. Von Oberzell rückten die US-Einheiten weiter über die Ziegelhütte, Heubach und Uttrichshausen in Richtung Wildflecken weiter. Tragischerweise wurde noch ein Tag vor Einmarsch der Amerikaner in Oberzell ein deutscher Soldat, der sich in seine Heimat nach Hanau durchschlagen wollte, von einem sogenannten „Fliegenden Standgericht“ exekutiert.

Spuren des kurzen Artilleriebeschusses von Weichersbach am 5. April 1945 hat Hildegard Münch übrigens heute noch täglich vor Augen. Am Fußende ihres Bettes hat ein Granatsplitter eine Schramme im Holzrahmen hinterlassen.

(Nach Recherchen von Erhard Belz und Hans-Georg Föller)